QUERSCHLÄGER

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

Die Deppen

 

 

 

 

 

Falludscha, Irak, 2004

 

 

 

 

 

Hitze, Hitze, Hitze. So hatten sie es sich nicht vorgestellt. Oder besser, so kann man es sich vorher nicht vorstellen. Vanstraten sitzt mit verbissener Miene hinterm Lenkrad des gepanzerten Mercedes Geländewagens. Sie sind der vierte in der Reihe, als fünfter folgt ihnen noch die Absicherung nach hinten. Nochmal ein Versuch nach Bagdad durchzukommen. 800 km liegen schon hinter ihnen, von Amman aus, beim zweiten Mal. Sie sind endlich doch losgefahren, als Ablösung der Bereitschaft für die deutsche Botschaft in Bagdad. Drei Monate Dienst, dann wieder die nächste Schicht. Wegen zwei Getriebeschäden sind sie beim ersten Versuch wieder umgedreht.

 

Und jetzt haben die Amerikaner in Falludscha diesen blöden Rachefeldzug wegen vier toten Blackwater Leute begonnen. Wegen Söldnern!

 

Nicht gut für sie, sie müssen an Falludscha vorbei. Deshalb sind sie auch nicht die Hauptroute, sondern ein bisschen außen herum gefahren.

 

Vanstraten und Bessler vorne, Pekoviak hinten. Drei Bundespolizisten, Personenschützer, GSG 9 Beamte. Vanstraten und Pekoviak, beide ungefähr 35, Polizeihauptmeister, und Bessler, acht Jahre älter, Polizeioberkommissar. Grundgehalt ungefähr 2500 €, beziehungsweise 3000€. Brutto! So viel wie ein Postbote oder ein Erzieher! Da konnten sie bei so einem Auslandseinsatz schon auf das Doppelte kommen. Aber ob sich das lohnte?

 

Vanstraten sieht kaum etwas. Der Staub der Kolonne vor ihnen ist überall, draußen und drinnen. Alles knirscht. Deshalb halten sie auch hundert Meter Abstand, nützt ein bisschen, aber nicht allzu viel, aber noch weiter auseinander wäre nicht gut, da könnten sie ja gerade so gut alleine fahren.

 

 

 

Bessler zuerst:

 

„Das da vorne mit dem Bus sieht irgendwie komisch aus, gefällt mir nicht“, und schreit dann plötzlich:

 

„He, was ist denn das? Eine Straßensperre!“

 

Pekoviak schreckt hoch, er hat ein bisschen vor sich hingedöst, das kann er immer!

 

Funkspruch vom vorderen Fahrzeug: „Wir werden beschossen, dreht um oder haut ab!“

 

Zu spät!

 

Sie sehen, wie die vorderen Wagen um den quer stehenden Bus herum schießen, versuchen seitlich vorbei zu kommen.

 

Schon sind sie auch an dem Bus.

 

Sand, Dreck, alte Autoreifen, ein Wrack an der Böschung, hoffentlich bleiben sie nirgends hängen, Vanstraten drückt auf das Gas, der Wagen macht Sprünge wie auf der Buckelpiste und schleudert aber doch um den Bus herum.

 

„Wenn wir jetzt von einer Panzerfaust oder so was getroffen werden, dann war´s das!“

 

Ein Loch, der Geländewagen hebt geradezu ab, macht einen Satz nach vorne.

 

Pekoviak hat mal wieder verbotenerweise an der Maschinenpistole, seinem „Schätzchen“, rumgefummelt, der HK MP 7. Sicherheitshalber hat er die sowieso lieber in der Hand!

 

Durch den Stoß wird er nach hinten in den Sitz geschleudert, die Faust schlägt ihm samt Maschinenpistole gegen die Nase, er hört es knacken.

 

Sie sind vorbei.

 

„Oh, nein, die wurden getroffen. Das war eine volle Ladung! “ Vanstraten sieht im Rückspiegel, wie der Wagen der Nachhut gegen eine Mauer rammt und liegen bleibt. Anschließend keine Sicht mehr. Pekoviak, hinten, jammert herum und hält sich die Nase.

 

„Das überleben die nicht!“

 

Sie sind wieder auf der Straße und rasen mit 180 Sachen geradeaus, Richtung Bagdad. Von überall wird jetzt geschossen, mit allem was die Iraker zur Verfügung haben und sie hocken da wie in der Blechdose. Aber dann sind sie durch!

 

Später: Benachrichtigung der Einsatzleitung. Dann wieder Schweigen, dann Pekoviak mit zusammengebissenen Zähnen:

 

„Wir sind doch nur die Deppen. Das bisschen Kohle mehr und hinterher …“

 

Vanstraten: „Das machen wir doch alles fürs Vaterland! Verantwortung und Vertrauen! Wissen wir doch! Aber Mist! Blödes Rumgequatsche. Die beiden im letzten Wagen sehen wir nämlich nicht wieder!“

 

Bessler sagt gar nichts!

 

Später entschuldigte sich die irakische Armee, man habe geglaubt, dass es ein US-amerikanischer Konvoi gewesen sei. Aber die beiden Beamten im letzten Wagen blieben trotzdem tot.

 

 

 

 


 

 

 

 

Seltsame Camper

 

 

 

Der Campingplatz in Heidelberg lag noch dort, wo er schon immer gelegen hatte und sah auch noch genauso aus. Links zuerst das Verwaltungsgebäude, an das ein Restaurant anschloss, das aber einen etwas verlotterten Eindruck machte und offensichtlich schon länger nicht mehr im Betrieb war. Danach, separat, das Toilettengebäude, gefolgt von etlichen Blockhäusern, die vermietet werden konnten. Alles in Holz, entweder mit Schlupf und Deckel oder waagerechter Bretterverschalung. Rechts floss der Neckar träge dahin, parallel dazu, lang gezogen, der Platz, in der Mitte von dem einzigen Sträßchen durchzogen, das der Campingplatz aufwies. Weiter hinten ging es in einen Schotterweg über. Oben, gut 10 Meter höher gelegen, verlief die Straße von Ziegelhausen nach Kleingemünd. Auf der anderen Seite sah man zwar auf die stärker befahrene Straße nach Neckargemünd und dahinter verlief auch gleich noch die gar nicht so wenig frequentierte Bahnstrecke, aber das störte nicht sehr. Der Neckar hatte hier doch schon eine ziemlich beträchtliche Breite von vielleicht einhundert bis einhundertfünfzig Metern.

 

Paul Backes stand an der Rezeption, und Toni, seine alte und seit kurzem wieder neue Lebensgefährtin, war auch aus dem VW Bus ausgestiegen und mit Pako, ihrem neuen Hund, ein wenig nach draußen gegangen, vor den Campingplatz.

 

Er kam sich etwas komisch vor. Nicht nur, dass er jetzt hier stand, so als ob nichts geschehen wäre, sondern auch, weil sie ja mehr als zehn Jahre getrennt gewesen waren, bis zu dieser etwas überstürzten Ungarnreise, die in mancher Hinsicht zu überraschenden Ergebnissen geführt hatte. Und seitdem übten sie sich darin, das Unnormale normal erscheinen zu lassen. Bis jetzt mit einigem Erfolg, frei nach der Methode, wir tun mal so, als wäre das doch alles nicht so kompliziert.

 

Und dann hatten sie also auch noch den umwerfenden Beschluss gefasst, einen Campingkurzurlaub in Heidelberg zu verbringen. Es war Frühjahr, Toni hatte Pfingstferien, und Paul hatte sich einige Tage in der Redaktion freischaufeln können.

 

„Komm, wir fahren mal wieder nach Heidelberg und besuchen Lene ein bisschen.“ Lene, ihre Jüngste, studierte dort. Toni hatte des Öfteren recht spontane Einfälle, hatte sie auch schon früher gehabt, aber jetzt, wo sie ja beide zugegebener Maßen schon nicht mehr so ganz jung waren, konnte er das besser wegstecken, sich besser drauf einstellen. Und auch diese ganzen komplizierteren Fragen, wie oft trifft man sich, wo sollten sie wohnen, wohnen sie überhaupt wieder zusammen und gibt man dann vielleicht eine der Wohnungen auf, in dem Fall natürlich Pauls kleines Häuschen, das war ihm alles nicht mehr so wichtig. Ihr anscheinend auch nicht.

 

In der Tat war er sehr oft bei ihr, und ihr schien das auch recht zu sein. Sein Quartier behielt er trotzdem. Erstens kostete es ja nicht viel, und zweitens konnte er manchmal, wenn er seine Ruhe brauchte oder auch mal, vor allem am Wochenende, wenn er zuhause etwas schreiben wollte, sich dorthin verziehen. Aber sonst …?

 

Also waren sie kurz entschlossen und, ohne das weiter zu problematisieren, in Richtung Heidelberg gestartet.

 

Und nun stand er wieder mal an der Rezeption und musste feststellen, jetzt hier zu sein war doch ein seltsames Gefühl. Geradezu ehrfürchtige Gedanken suchten ihn heim, diese neuen Lebensverhältnisse nicht verdient oder zumindest ungeheures Glück gehabt zu haben. Er wusste zwar immer noch nicht so genau, was bei Toni diesen Meinungsumschwung herbeigeführt hatte, aber als sie sich an einem dieser Abende nach der Budapest Reise bei „Nino“ getroffen hatten, um alles nochmals zu besprechen, hatte er, ohne viel nachzudenken, nach ihrer Hand gegriffen und sie hatte es geschehen lassen. … Und so weiter.

 

Irgendwie bekam er Gänsehaut, wenn er daran dachte.

 

Er war an der Reihe: „Ein Bus, zwei Personen, ein Hund und Strom.“

 

Das wurde notiert.

 

„Wollen Sie morgen früh Brötchen haben, hier ist die Liste, was es alles gibt?“

 

Paul schaute sich die Liste an und wählte zwei Brezeln und zwei Körnerwecken aus.

 

Dann setzte er sich wieder in den VW-Bus und fuhr ungefähr ein- bis zweihundert Meter weiter, nachdem ihm Toni signalisiert hatte, dass sie nachkäme.

 

Dort gab es einige leere Plätze auf der rechten Seite, direkt über dem Fluss. Er parkte rückwärts ein, parallel zur Uferböschung, und fing schon mal an Tisch und Stühle auszupacken. Toni kam mit Pako an der Leine angeschlendert und gab ihm einen Kuss und einen Klapps auf den Hintern, offensichtlich das Einverständnis mit seiner Platzwahl.

 

Nach dem Abendessen, Toni hatte sich in einen Schmöker vertieft, schlenderte Paul mit Pako an der Leine noch ein Stück weiter durch den Platz. Neben den normalen Lang- und Kurzzeitcampern in ihren Zelten, Wohnwägen und Wohnmobilen hatten sich vor allem weiter hinten ein paar Dauercamper niedergelassen, bei denen zumindest ein Teil der Behausungen den Eindruck erweckte, als wohnten die Besitzer auf dem Campingplatz. Abenteuerliche Konstruktionen gab es da: Vorbauten, Anbauten, mehrere zusammengebastelte Vorzelte, deren ehemalige Struktur man dank Verkleidung nach außen und oben gar nicht mehr erkennen konnte. Und Garagen, Rollläden, Schaufenster mit Nähmaschinen und anderem Interieur, Anhänger mit Wassertanks oder auch nur verschiedenes Gerümpel: Kaputte Stühle, Tische, Angeln, eine Satellitenanlage, eine Laterne und diverse Gartenzwerge. Auch ein Auto ohne Nummernschild gab es, das unter einer Plane hervorschaute. Und vor einer dieser leicht zugigen Wohnlandschaften gab es auch noch einige große Kübel mit Tomatenpflanzen oder undefinierbarem grünen Gestrüpp. Aber zu sehen war niemand.

 

Paul hatte vor nicht allzu langer Zeit einmal eine Sendung gesehen, über Leute, die auf Campingplätzen lebten, was anscheinend gar nicht so selten vorkam, ganz abgesehen von den Dauercampern, die zwar eine Wohnung hatten, aber doch lieber die meiste Zeit draußen auf dem Campingplatz verbrachten. Die Gründe für das Dauerwohnen waren vielfältig: Nicht nur wirtschaftliche Not, auch der Zufall konnte zu einer solchen Entscheidung führen. Es hatte Probleme mit der Kündigungsfrist gegeben, die neue Wohnung war wieder abgesagt worden und ähnliches. Dann hatte man sich an den Wohnwagen gewöhnt und der Weg zurück in eine feste Wohnung fiel nach einiger Zeit immer schwerer. Im Winter war dann natürlich Kreativität gefragt, aber auch das war machbar.

 

Paul ging an drei, vier solcher Behausungen vorbei und dachte sich seinen Teil. Anschließend kam ein größeres, leeres Areal, das wohl eher von Großgruppen genutzt wurde, wie er sich dunkel erinnerte. Aber auch hier war niemand zu sehen. Dann endete der Campingplatz mit einer Pforte, dahinter begann eine Wiese, die zum Neckar hinunterführte, der hier in einer leichten Biegung nach links hinterm Gebüsch verschwand.

 

50 Meter vom Ufer entfernt befand sich eine Feuerstelle, in der ein Feuerchen brannte. Zwei Männer saßen daneben auf einfachen Campingstühlen und stierten vor sich hin. Die Stühle sahen zwar eher aus, als seien sie vom Sperrmüll, man saß darauf aber auf jeden Fall bequemer, als auf der danebenstehenden Partybank. Vielleicht waren das ja zwei der Dauerbewohner?

 

Zumindest waren sie von ihrem Äußeren her irgendwo zwischen Ballermann-Urlauber und Penner hängen geblieben. Neben jedem lagen zwei, drei Bierflaschen, eine angetrunkene stand daneben und eine Sixpack Tasche dahinter im Gras. So konnte man den Abend auch verbringen.

 

Paul hatte keine Berührungsängste, heute nicht. Und grundsätzlich war er sich sowieso aus eigener Erfahrung zu sehr bewusst, wie eng der Grad war zwischen sich gerade nochmal Berappeln und Abrutschen. Nach der Trennung von Toni hatte es eine Zeit gegeben, wo sich sein psychischer und physischer Zustand auf einer raschen Talfahrt befunden hatte und nicht viel gefehlt hätte und er wäre vollends in seinem Selbstmitleid ertrunken.

 

Aber Pako waren solcherlei tiefsinnige Überlegungen sowieso egal, er wusste, was ihn interessierte. Paul hatte ihn hinter der Pforte laufen lassen, wohl wissend, dass dies ein nicht ganz konfliktfreies Unterfangen war. Konflikt in Bezug auf ihn und Pako. Weniger, weil Pako einer dieser unangenehmen Kläffer oder sonst wie aufdringlich gegenüber Fremden gewesen wäre, eher wegen seines manchmal durchbrechenden Freiheitsdrangs.

 

Aber Pako interessierte sich nur für den näheren und weiteren Bereich um das Feuer, vielleicht gab es da ja was zu finden.

 

Paul fühlte sich jetzt doch bemüßigt hinterher zu kommen, wer wusste, was Pako da wieder entdeckte. Am Ende musste der Köter nachts um drei wieder raus, weil er irgendwas nicht vertrug und Paul war dann wieder derjenige, der die schlechteren Nerven hatte und aufstand.

 

„Pako komm hier her!“

 

„Der kommt oder kommt nicht“, kommentierte einer der beiden am Feuer Sitzenden diesen momentan fruchtlosen Versuch.

 

Paul ging hinterher und zog Pako aus dem Gebüsch. Noch hatte er wohl nichts gefunden. Er leinte ihn an und meinte zu den beiden:

 

„Sich über arme geplagte Hundebesitzer lustig machen, das hat man gerne. Aber gemütlich habt ihrs hier.“

 

„Ja, ja man gönnt sich ja sonst nix, aber nix für ungut, auch ´n Bier?“ Einer der beiden grinste ihn an und fingerte eine Flasche aus der Tasche und hielt sie ihm hin.

 

Paul hätte später natürlich nie sagen können, weshalb, aber auf einmal bekam er wieder mal dieses spezielle Gefühl im Nacken und irgendjemand in seinem Hinterkopf sagte, das ist genau der Moment, wo du dir viel Ungemach ersparen kannst. Aber wie´s halt manchmal so ist mit den guten Vorsätzen - das nächste Mal bist du vorsichtig und lässt dich nicht wieder in irgendetwas hineinziehen – Vor-sätze sind dazu da, dass man sich, wenn´s sein muss, drüber hinwegsetzt. Er sagte „Ja, warum nicht“, nahm die Bierflasche, zog sein Taschenmesser aus der Tasche – wahrscheinlich hatte er damit schon den ersten Härtetest bestanden, Messer in der Hosentasche! - öffnete die Flasche, setzte sich auf die Partybank und hob mit „Danke! Prost!“ die Flasche an und nahm einen langen Zug. Die zwei tranken auch.

 

Jetzt hatte er Gelegenheit die beiden etwas genauer zu betrachten.

 

Sie waren wohl ähnlich alt, so um die vierzig, den einen zierte eine leicht lädierte Nase, beinahe Typ Jahrmarktboxer, mit leichten Segelohren und Halbglatze. Sinnigerweise trug er tatsächlich eine Art kurzen Bademantel und darunter nur eine Badehose und Badelatschen, vielleicht war er tatsächlich im Neckar schwimmen gewesen. Er machte auch einen etwas stabileren Eindruck, als man ihm das von weitem ansehen konnte.

 

Nummer zwei hatte etwas mehr Haare auf dem Kopf, rötlich blond, die dringend wieder mal einen Friseur brauchten. Strähnig, halblang und dünn dazu. Das Gesicht war ziemlich pickelig und wies eine eher ungesunde Rötung auf, die zu viel Alkoholgenuss vermuten ließ. Er trug ebenfalls Badelatschen, darüber aber Jeans, T-Shirt und sinnigerweise eine schon etwas ältere Trainingsjacke des Polizeisportclubs Mannheim.

 

„Ja, und? Woher, wohin und wo wars´de gestern?“, meinte jetzt Boxernase. Er war anscheinend für die Konversation zuständig und hatte wohl eine Vorliebe für leicht angestaubte Sprichwörter.

 

Sie quatschten ein bisschen dies und das, über den Abend, das Wetter, das Campen und das „Draußen Sein“, bis Hansi, der mit der Boxernase, plötzlich munter wurde. Man hatte sich inzwischen vorgestellt. Der andere hieß Piet, hatte aber sonst immer noch nicht viel gesagt.

 

Paul Backes hatte erzählt, dass er aus dem Schwarzwald käme, Gerichtsreporter sei, aus einem Dorf zwischen Freudenstadt und Oberndorf, Gundelshausen, und dass sie manchmal nach Heidelberg fuhren, um ihre Tochter zu besuchen.“

 

„Oberndorf, das kennen wir doch, was?“ Dieser Hansi lachte und hieb seinem Kumpel auf die Schulter. „Heckler und Koch, die Saubermänner aus dem Schwarzwald. Und Neckartenningen mit seiner Maschinenfabrik liegt auch nicht weit. Schöne Maschinenfabrik. Spezialisten für weltweiten Waffenhandel, aber alles nach Recht und Ordnung, was, Piet?“ Er lachte wieder und fügte nach kurzer Pause noch hinzu, „da kennen wir uns aus, als Ex-Bullen!“, verfiel dann aber in eine Art stieres Vor-sich-Hinstarren. Sein Kumpel grunzte.

 

Paul wunderte sich. Die beiden hatten bis dahin noch nicht sonderlich viel von sich erzählt, nur dass sie tatsächlich auf dem Campingplatz hausten. Sie halfen dem Besitzer wohl ab und an beim Mähen, Müll Sortieren und sonstigen Geschäften, die anfielen, aber sonst wusste er eigentlich tatsächlich nur ihre Vornamen.

 

Aber vor allem der resigniert sarkastische Unterton in Hansis Kommentar zu Oberndorf hatte ihn doch aufhorchen lassen. Und die Tatsache, bei so einem gemächlichen abendlichen Verdauungsspaziergang von einer Person, von der man das nicht unbedingt erwartete hätte, auf ein zumindest interessantes, wenn nicht sogar brennendes, politisches Konfliktfeld angesprochen zu werden. Deshalb war er auch eher misstrauisch, was da vielleicht kommen könnte.

 

Klar, er wusste auch so einiges über die Waffenfabriken am Neckar, Heckler&Koch, H&K, wie die Firma auch kurz hieß, und Mauser in Oberndorf sowie die NM, Neckartenninger Maschinenfabrik, nicht weit entfernt von Oberndorf, auf der anderen Neckarseite. H&K und NM, unter den weltweit führenden Produzenten von Handfeuerwaffen, Lieferanten der Bundeswehr und so manch anderer Heere, deren Standard Waffen, momentan das G36 von H&K, ein Schnellfeuergewehr, und das M27, ein schweres Maschinengewehr, weltweit in allen militärischen Konflikten auf allen Seiten auftauchten. Und vor allem gab es immer wieder Gerüchte und Vorwürfe über die Umgehung der gesetzlichen Handelsschranken, dem Ausfuhrverbot für Waffen in Krisenregionen, und deshalb auch immer wieder Gerichtsverfahren vor allem gegen H&K und NM, momentan wegen des Auftauchens dieser Waffen in Mexiko. Einige der dortigen 31 Bundesstaaten galten als Krisenregionen, als extrem gefährlich, wegen der Konflikte mit den Drogenbanden, in die auch wiederum Militär und Polizei verdächtigt wurden, auf beiden Seiten verwickelt zu sein. Auch dorthin waren die Gewehre geliefert worden. Wer aber geliefert hatte und über welche Kanäle, darüber wurde vor Gericht gestritten.

 

Beruflich hatte Paul damit noch nichts zu tun gehabt, da musste man Spezialist sein, um sich in diese anhängigen Verfahren einarbeiten zu können. Das überließ er lieber den Fachleuten der Presseagenturen. Sein Metier waren eher die Wald- und Wiesendelikte, die in der Region Nördlicher und Mittlerer Schwarzwald normalerweise abgehandelt wurden. Und ab und zu mal ein ungeklärten Todesfall oder Mord.

 

Aber möglicherweise wussten die beiden tatsächlich einiges über die schwäbischen Fabriken.

 

Paul überlegte noch, wie er das überprüfen könnte, als Hansi wieder aufblickte und ihn ansah.

 

„Du bist doch Gerichtsreporter, hast du gesagt. Wie wär´s, wenn ich dir eine kleine Geschichte erzähl über Heckler und Koch und NM. Vielleicht kannst du was damit anfangen?“ Offensichtlich war er doch schon so angetrunken, dass er die möglicherweise berufsbedingt vorhandene Vorsicht aus einem früheren Leben fallen ließ, wenn das mit den „Ex-Bullen“ stimmte.

 

Paul beeilte sich, ihn durch ein interessiertes Gesicht aufzumuntern. Besser gar nichts sagen, sonst bin ich gleich zu neugierig, ging es ihm durch den Kopf. Denn Fragen ergaben sich natürlich schon einige, zunächst schon mal, woher hatten die beiden irgendwelche Informationen, in welchen Zusammenhängen hatten sie gesteckt, dass sie da irgendwas wussten? Nur, weil sie vielleicht einmal Polizisten waren, wie sie aussahen, konnten sie das jetzt wohl kaum mehr sein, kannten sie sich nicht unbedingt mit den Machenschaften  diesen Waffenfirmen aus.

 

Hansi gab ihm gleich von selbst mit leicht schleppender Stimme die Antwort:

 

„Der Gaddafi Clan, den kennst doch, oder? Libyen! Klar, nicht?“

 

Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er gleich selbst fort:

 

„Saif und Saadi, das sind zwei der Söhne des Alten. Saif al Islam und Saadi Gaddafi, da staunste was? Wie gesagt zwei von Gaddafis Söhnen, der Alte wurde ja umgebracht, bei dieser sogenannten Revolution.“

 

Paul Backes traute seinen Ohren nicht, wo ging es denn jetzt hin?

 

„Wir waren da unten, haben Schießausbildungen gemacht, mit der Palastwache. Noch vor 2010 war das. War nicht so ganz legal. Der eine, Saif, hat uns beauftragt und der andre, Saadi, der war ein zwei Jahre vorher in Oberndorf bei Heckler und Koch, wissen wir aus sicherer Quelle. Seltsamer Zufall. Was er da wohl gemacht hat? Und dann bei der Besetzung des Palasts, wo die Freischärler diese H&K Waffen entdeckt haben, die G36 mit den gefälschten Waffenstempeln, M27 von NM waren da übrigens auch dabei, taucht der Name von Saif wieder auf. Er soll diese Waffen angeblich aus Ägypten besorgt haben. Dorthin seien die geliefert worden, sagt Heckler und Koch. Nach Libyen hätten sie ja nicht geliefert werden dürfen. Vielleicht waren die ja aber auch gleich aus Oberndorf! Oder Neckartenningen.

 

Klingelt da was? Bei diesen Waffen? Das könnte uns ja auch aufgefallen sein, dass diese Waffen nicht ganz sauber sind.“

 

Er rülpste kräftig.

 

„Das darf natürlich niemand wissen. Wir waren nämlich von der GSG 9. Bundespolizei. Haha. Wir haben uns dann auch lieber selbst ausgemustert.

 

Uns haben sie nämlich den Prozess gemacht, naja disziplinarisch, weil wir in unserm Urlaub da runter sind, um die ein bisschen zur unterrichten, das soll einer verstehen. Dienstvergehen? Arschlöcher! Aber diese Schießübungen, das war lustig!

 

Das war doch schon damals klar, seit dieser Aktion in Saudi-Arabien, wo sie denen die falschen Waffen untergeschoben haben, wassergekühlte, dass das G36 bei Dauerfeuer ungenau wird, und jetzt machen sie so ein Tamtam daraus.“

 

„Wo sie denen, als die in ihren Beduinenzelten beten waren, die Waffen ausgetauscht haben, damit das nicht so auffällt, “ ließ sich jetzt auf einmal Piet vernehmen. Er hatte anscheinen doch auch etwas zu beizutragen.

 

Kurze Pause.

 

„Ja das ist ja jetzt bekannt, aber hat das auch etwas mit der Neckartenninger Fabrik zu tun?“

 

Hansi schüttelte vor so viel Unwissen den Kopf.

 

„Die fertigen doch die Läufe für das G36, sozusagen arbeitsteilig!“

 

Er schüttelte immer noch den Kopf und nach einer nochmaligen kurzen Pause fuhr er fort:

 

„Da haben wir dann besser unsern Abschied genommen, bevor die noch mehr nachgebohrt hätten!“

 

Er verfiel wieder einige Zeit ins Grübeln, aber nicht sehr lange:

 

„Wir sind ja eigentlich zu dritt. Also hier in der Gegend, ansonsten waren das schon noch ein paar mehr. Unser Dritter, der Dirk, hat es aber vorgezogen, sich ganz unsichtbar zu machen. Ist als Offizier ja auch härter belangt worden. Man kann ja nie wissen, hat er immer gesagt. Aber der ist ja auch ein Geheimniskrämer, hat es immer so wichtig, dass er Sachen wüsste, da hätten einige Herren Probleme, wenn das rauskäme.“

 

Paul schwirrte der Kopf, schwieg aber zunächst einmal, vielleicht kam ja noch was. Aber Hansi, der Mann mit der Boxernase, der anscheinend tatsächlich eine etwas bessere Vergangenheit hatte, als sein jetziges Outfit und sein körperlicher Zustand vermuten ließen, Hansi hatte seine Mitteilungen eingestellt. Vielleicht hatte er das Gefühl, doch zu viel gesagt zu haben.

 

„Dieser Dirk …“ Paul lies doch mal einen Versuchsballon steigen.

 

„Ja, das wäre schon eine gute Sache, wenn da mal die richtigen Leute etwas besser Bescheid wüssten. Und du bist von einer Zeitung, da aus der Ecke?“

 

„Ja, aus der Freudenstädter Redaktion, aber überregional, also für den Bereich nördlicher und mittlerer Schwarzwald, als Gerichts- und Kriminalreporter zuständig. Insofern fällt die Oberndorfer Region schon im mein Ressort, oder wenn es indirekt was mit Oberndorf zu tun hat.“

 

„Denk ich mal, ja! Der Dirk, der tut immer so wichtig mit seinen Papieren, was da alles drinstünde. Aber ich weiß nicht, um was es da geht, will es vielleicht auch gar nicht wissen, uns geht’s hier doch ganz gut, gell Piet?“

 

Piet grunzte zustimmend, machte sich noch ein Bier auf, nahm einen Schluck und schaute zu den beiden Männern, die da mit ihm am Feuer saßen. Die warteten ihrerseits darauf, ob von ihm vielleicht auch noch etwas käme, aber Piet fummelte sich doch lieber nur eine Zigarette aus der Packung, zündete sie sich an und musterte weiter den Boden, wie er es zuvor schon die meiste Zeit getan hatte, als ob es dort etwas Interessantes zu entdecken gäbe.

 

„Tja, so ist das“, fuhr Hansi deshalb fort, „vielleicht können wir ja mal einen Kontakt zwischen dir und Dirk herstellen. Wer weiß, unser Herr Dirk, vielleicht spuckt er ja mal aus, was er Wichtiges zu sagen hat.“

 

Er hatte aber wohl selbst Zweifel, denn er fuhr fort, „aber was soll´s, “ rülpste und fügte noch hinzu, „ist ja sowieso egal.“

 

 

 

Sonntagmorgen

 

 

 

Paul und Pako hatten noch eine kleine Runde am Neckar entlang gedreht und waren dann an der Straße zwischen Kleingemünd und Ziegelhausen entlang von oben wieder zurück zum Campingplatz gelaufen.

 

Im Bus fand er Toni schon unter der Bettdecke wieder. Sie war aber noch wach, stützte ihren Kopf auf den Ellbogen und schaute ihn an.

 

„Wo kommst du denn her? Hast du etwa wieder etwas zu recherchieren gehabt?“

 

„Hm, du wirst lachen, ich habe wirklich zwei etwas seltsame Gestalten getroffen, ich erzähl´s dir morgen. Jetzt muss ich mir tatsächlich noch ein paar Notizen machen.“

 

„Da kann ich dir aber nicht garantieren, dass ich noch wach bin.“

 

„Das geht ganz schnell und ich komm dann!“

 

Toni mummelte sich ein und Paul zog aus seiner alten Tasche, die inzwischen auf dem Fahrersitz gelandet war, einen Block heraus, steckte draußen das Lampenkabel in den Außenstecker, setzte sich an den Campingtisch und schaute zunächst etwas unschlüssig vor sich hin. Lohnte sich das? Das war doch alles schon ziemlich lange her, und diese Waffenschmieden schlugen sich ja momentan mit ganz anderen Sachen herum, mit dieser Mexiko-Geschichte. Aber wer weiß, vielleicht führte ihn das Ganze zu etwas, mit dem man doch etwas anfangen könnte. Eine größere Geschichte hatte er ja schon länger nicht mehr gehabt.

 

Also begann er doch zu schreiben. Pako lag auch schon im Bus und begann vor sich hin zu schnarchen.

 

- Gaddafi Söhne!

 

- H&K, NM: G36 in Libyen Schießübungen

 

- Mängel beim Dauerschießen

 

- Hansi und Piet?? – Nur einfache Beamte??

 

- Verfahren gegen Mitglieder von GSG 9 – warum?

 

- Schulung von Gaddafis Polizei oder?

 

- was erhoffen sich die beiden?

 

- Campingplatz!?

 

- Dirk??

 

- Angst??

 

Aber das war es im Prinzip schon. Sonst fiel ihm nichts mehr ein, er blieb noch fünf Minuten sitzen und schaute in den Himmel, der heute Abend relativ sternenklar war, und ging dann zum Waschhäuschen und anschließend zu Toni unter die Decke.

 

 

 

In den nächsten Tagen taten die beiden Dauercamper so, als sei nichts geschehen. Wenn man sich begegnete, konnte man nur ahnen, ob die beiden gegrüßt hatten oder nicht. Das heißt, bei Hansi war es geringfügig besser, zu- mindest ein Brummen konnte man identifizieren, aber eine Aufforderung zum Sprechen sah anders aus. Piet hingegen war offensichtlich schon das zu viel, er marschierte einfach an einem vorbei.

 

Paul war es zunächst einmal egal. Die hatten ja was von ihm gewollt und nicht umgekehrt.

 

Als er Toni am nächsten Tag beim Frühstück von seinen abendlichen Gesprächspartnern berichtet hatte, meinte sie:

 

„Wir waren da ja mal aktiver, aber das ist schon ziemlich lange her.“

 

Paul wusste zunächst gar nicht, worauf sie anspielte, doch es fiel ihm aber relativ schnell wieder ein, als sie ihm auf die Sprünge half.

 

„Die Friedensdemos in Oberndorf, wie lange ist das denn her?“

 

„Ach, ja, das muss so Mitte der 80er gewesen sein.“

 

Oberndorf am Neckar ist eine merkwürdig zweigeteilte Stadt, in den Teil unten am Neckar und die Altstadt auf halber Höhe am linken Neckartalhang. Der Neckar ist hier gerade mal ca. 35 von seinen 365 Kilometern alt und noch relativ schmal. Das Tal ist eng und steigt steil nach oben auf die doch recht hoch gelegene Ebene zwischen Schwarzwald und Alb.

 

Heckler&Koch liegt ganz oben, auf dem so genannten Lindenhof. Mauser unten im Tal, und etwas flussaufwärts geht es ins nicht weit entfernte Neckartenningen, wo NM beheimatet ist.

 

Man hatte sich unten am Neckar versammelt und lief dann über eine Verbindungsstraße zum oberen Stadtteil. Kaum jemand war auf den Straßen oder an den Fenstern zu sehen gewesen. Eine geradezu gespenstige Atmosphäre des Ausgeschlossen Seins hatte geherrscht, daran konnte sich Paul noch sehr gut erinnern. Die vielleicht ein paar hundert Demonstranten marschierten die Umgehungsstraße von unten nach oben hinauf, sangen mit Inbrunst ihre Lieder und skandierten eine Losung nach der anderen und niemand nahm Notiz davon, eine recht deprimierende Angelegenheit. Es dürfte bei einem Ostermarsch gewesen sein. Aufgerufen hatten wahrscheinlich der DGB und die DFG-VK, die Vereinigung der Kriegsdienstgegner, der Paul in der Zeit seiner Kriegsdienstverweigerung auch beigetreten war. Später war sie ihm zu DDR-hörig und etwas blind auf dem einen Auge vorgekommen, und er war wieder ausgetreten. Aber damals war das noch Ehrensache, dass man sich an den Protestkundgebungen beteiligte, samt Kleinkindern, die im Kinderwagen mitgeschoben wurden. Dass es auch und gerade gegen die Waffenfabriken in der Nähe gegangen war, hatte er sicher wahrgenommen, war ihm aber nicht in Erinnerung geblieben.

 

Paul und Toni hatten in den folgenden Tagen nicht sehr viel mehr darüber gesprochen, das war nicht unbedingt ein Kapitel, auf das man mit Begeisterung zurückblickte, eher eine etwas traurige Veranstaltung. Sie verbrachten einige nette Stunden mit Lene, die ihnen das neueste vegetarische Restaurant vorführte und ihrerseits fuhren sie ein paar Mal mit dem Rad in verschiedenen Richtungen, mal aufwärts, mal abwärts, am Neckar entlang. Dann zeigten sie Lene Dilsberg, das mittelalterliche Festungsstädtchen oben auf der Ebene über dem Neckartal, in der Nähe von Neckargemünd. Das hatte Lene noch nie gesehen! Was taten sie denn eigentlich, diese jungen Leute von heute?

 

Nach einigen Tagen ging es wieder zurück in den Schwarzwald und Paul vergaß zunächst mal das etwas seltsame Treffen auf dem Heidelberger Campingplatz.

 

 

 

Das Handy klingelte. Paul schaute voller Unverständnis auf die Uhr, die auf seinem Nachtisch lag. Es war Sonntagmorgen, 7 Uhr 30, und einige Wochen nach dem Pfingsturlaub. Toni hatte diese Woche viel zu tun, die letzten Arbeiten mussten geschrieben und korrigiert werden und ihr Chef hatte sie sinnigerweise am Wochenende zu einer Fortbildung über die neuen Medien geschickt, der wusste auch, wen er fragen konnte, vielleicht wäre er besser selbst dahin gegangen. Paul verbrachte mal wieder einige Tage in seiner Hütte in Gundelshausen, bisschen bewohnen, wie er mittlerweile schon sagte.

 

Er rappelte sich hoch und drückte auf Annahme.

 

„Du, der Zeitungsheini aus dem Schwarzwald, bin ich da richtig?“

 

Pauls Hirn ratterte und er versuchte die Stimme einzuordnen. Wer war das? Heidelberg? Campingplatz? Das war einer dieser Dauercamper, einer der Ex – Polizisten?

 

„Bist du noch dran?“

 

„Ja, wer ist da?“

 

„Hansi, der Camper vom Heidelberger Campingplatz, du hast mir doch deine Karte gegeben, wenn nochmals was passiert, “ er klang irgendwie panisch, hektisch, wie wenn er das schnell hinter sich bringen wollte, „also, wenn ich was von Dirk höre oder mit ihm gesprochen habe.“

 

Paul konnte sich daran nicht erinnern. Weder dass er ihm die Karte gegeben hatte, noch an diese Aufforderung, war das nicht eher umgekehrt gewesen?

 

„Das kann ich aber gar nicht, der ist tot! Tot! Die haben den gefunden, an so einem Feldweg, zwischen dem Neuenheimer Feld und Ladenburg, irgendwo da, bei so einem Reitbetrieb, hat mir ein ehemaliger Kollege gesagt, der wusste, dass wir uns kennen. Kopfschuss, zack. In der Nähe, hinter einem Hochsitz. Der hat da gewohnt, hat da als Reitlehrer gearbeitet. Sieht aus wie eine Hinrichtung, hat der gesagt.“

 

Paul Backes Kopf arbeitete immer noch. Was wollte der? Was hatte er mit einem Mord in Heidelberg zu tun. Was sollte das?

 

„Ja, und ich habe dir meine Karte gegeben….?“ 

 

Zeit gewinnen!

 

„Ja, wenn was wäre, aber das ist doch was, das ist vielleicht ein Ding! Und dich müsste das doch interessieren!

 

„Wieso sollte mich das interessieren?“

 

„Ja wegen Heckler und Koch oder den Neckartenningern.“

 

„Wieso wegen H&K oder dieser anderen Fabrik?“

 

„Ja, das hat doch sicher was mit denen zu tun, die haben den umlegen lassen, der hatte bestimmt irgendwas gegen die in der Hand.“

 

Jetzt hat er sich tatsächlich den Kopf weggesoffen.

 

„Wieso soll so eine Firma jemand umlegen lassen. Das ist doch sicher schon alles irrsinnig lange her, der kann in der Zwischenzeit doch wer weiß an was beteiligt gewesen sein.“

 

„Nein, der hat da unter falschem Namen gelebt, die sind nur darauf gekommen, die Heidelberg Kollegen, weil seine Daten gespeichert waren, ich weiß aber nicht wieso. Und außerdem hat auch die Rosi so etwas gesagt, dass es was mit dieser Waffenfabrik im Schwarzwald zu tun haben könnte!

 

„Wer ist denn bitte die Rosi?“

 

„Seine Freundin, mit der hab ich nochmal telefoniert, nach der Sache, nachdem der gefunden worden ist.“

 

„Aha, die Freundin.“ Schön, dass man das auch mal wusste, dass er eine Freundin hatte!

 

Pause!

 

„Und was soll ich da bitte?“

 

„Du könntest mal zu einer von den Fabriken gehen und die einfach interviewen und dann damit konfrontieren, dass der tot ist und sehen, wie die reagieren.“

 

Paul hatte eigentlich keine Lust mehr, sich mit dieser Anhäufung von Unsachlichkeit und Verfolgungswahn zu beschäftigen und versuchte ihn abzuwürgen.

 

„Das ist doch alles unhaltbares Zeug, aus der Luft gegriffen, damit kann ich doch niemand konfrontieren, das heißt, da gibt es ja nichts zum Konfrontieren. Und in die Leitungsebene würdest du da sowieso nicht vordringen. Wenn du nochmal etwas Neues weißt, kannst du dich nochmal melden.“

 

Und legte auf!

 

Das Handy klingelte im Grunde sofort nochmal.

 

Er saß ja immer noch auf der Bettkante, auf die er sich zuvor nach den ersten Sätzen und nachdem er sich aus der Decke geschält hatte, niedergelassen hatte.

 

Er ließ es kurz klingeln und schaute hinaus aus seinem Fenster, das ihm einen Blick über die Ebene zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb gewährte, dort unten lag auch irgendwo Oberndorf, im Grunde vor seiner Haustür.

 

Er drückte nochmal auf die Annahmetaste.

 

„Ja?“

 

„Das war ja einer von denen, denen sie den Prozess wegen Geheimnisverrats gemacht haben, insofern war der auch aktenkundig, so erklär ich mir das.“

 

„Was für ein Geheimnisverrat?“, waren sie hier jetzt bei Räuber und Gendarm oder Winnetou und Old Shatterhand?

 

„Wir haben ja bei der Schulung der Libyer die Unterlagen von unseren eigenen Dienststellen verwendet, geheime Einsatzpläne und so ‘n Zeug, deswegen. Also die höheren Ränge, wir waren ja nur Fußvolk, Piet und ich und die andern. Schießtraining und solche Sachen haben wir mit denen gemacht.“

 

Wer das wohl glauben soll! Auf jeden Fall hatte es da jemand wohl ordentlich mit der Angst zu tun bekommen.

 

„Piet ist auch weg, in den Osten, hätte da irgendwelche Kontakte, da ginge was, keine Ahnung, was er damit gemeint hat.“

 

Paul glaubte ihm kein Wort.

 

„Ja und was soll ich denn nun dabei? Und was hat das mit dieser NM oder Heckler und Koch zu tun?“

 

Das war der falsche Satz, er spürte es sofort. Sozusagen die Steilvorlage, jetzt gab es kein Zurück.

 

„Äh, ja, Moment! Wegen dem, was wir damals gesagt haben, auf dem Campingplatz. Also, wenn eins klar ist, dann, dass das Profis waren und dass es da wohl um irgendwelche Geschäfte gegangen sein muss. Und wer hat solche Profis, Kontakt zu solchen Profis? Wenn nicht die Waffenhändler, wer dann. Und der Dirk, der hatte sicherlich noch mehr in der Hand. Bei der Auftragserteilung, als es um diese Schulungen ging, da wurden ja der genaue Auftrag besprochen, welche Waffensysteme und so weiter. Das ging über irgendwelche Sicherheitsfirmen. Offiziell!“

 

Sicherheitsfirmen, welche Sicherheitsfirmen?

 

„Und jetzt, wo sie den zum Tode verurteilten Gaddafi-Sohn frei gelassen haben, vielleicht hat er da gedacht, ich kann mein Wissen, zum Beispiel über diesen Murks mit dem nicht hitzetauglichen Gewehr, zu Geld machen. Dass die Waffenfirmen es mit der Angst zu tun bekommen, weil sie ja von zwei Seiten unter Beschuss stehen, einmal wegen der Exporte und zum andern, weil die Waffen gar nicht geeignet sind für die Wüste. So irgendwas!“

 

Von dieser Freilassung und den politischen Statements dieses Herrn hatte Paul auch gelesen, das war Anfang des Monats gewesen, Anfang Juni. Aber sonst?

 

Bei dieser so unlogisch wie abwegigen Schlussfolgerung fragte er sich, ob Hansi das selbst glaubte, aber irgendetwas gab es da wohl, außer diesen alten Kamellen, die der ihm da andrehen wollte, irgendwas war da faul, das stand wohl außer Frage. Und vielleicht hatte er auch mehr von dieser Rosi erfahren, der Freundin? Oder von diesem Kollegen selbst? Wenn das überhaupt etwas mit diesen Firmen aus Oberndorf und Umgebung zu tun hatte? Aber könnte ja vielleicht doch sein.

 

„Ja, wie stellst du dir das denn vor, wir gehen zu Heckler und Koch oder NM, fragen nach einem Interview über die Waffenschiebereien in Libyen und den Gaddafi Junior, ob da vielleicht ein gewisser Herr, wie hieß der noch mal?“

 

„Dirk, Dirk Bessler.“

 

„Also dieser Herr Bessler dabei war und ob die ihn haben umlegen lassen, wegen Erpressung, und ob sie´s noch auf jemand anderes abgesehen haben?“

 

„Ja, gewissermaßen. Der Bessler könnte doch angedeutet haben, dass der Sohn gesagt hat, dass er sich für ein Ende der Kämpfe und eine Erneuerung des Staates Libyen einsetzen will und sozusagen als Zeichen des guten Willens Kontakt zu Deutschland aufnimmt. Und er, der Dirk, könne beweisen, dass es einen Kontakt zu Gaddafi gab, so was!“

 

Könnte! Und vor allem müsste das nicht eigentlich umgekehrt sein? Dass Hansi und Kollegen. Angst haben müssten, dass da noch mehr über diese Schulungen und die Waffenschiebereien herauskommt. Das wäre doch auch bedenklich für diese Sicherheitsfirmen. Vielleicht hingen ja diese ehemaligen Polizisten da irgendwie drin? Paul schüttelte es beinahe. Wo war er denn da hingeraten?

 

„Welche Sicherheitsfirmen waren das?“

 

„Keine Ahnung, da hatten wir nichts mit zu tun, das haben andere organisiert.“

 

Das war nun weniger glaubhaft. Aber er wollte jetzt mal nicht noch mehr bohren, dann würde er zu viel Engagement zeigen, das wäre ja auch nicht gut.

 

„Ihr von der Presse habt da doch bestimmt andere Möglichkeiten, vielleicht kennt Ihr ja jemand in Oberndorf, der jemand kennt und so? Und nur, ob sie was von diesem Mord gehört haben, wie sie da reagieren?“

 

Aha!

 

„Einen von der Chefetage. Da gab’s jemand, der hätte was mit den Teilhabern, also Geldgebern, Aktionären, zu tun. Der Chefetage von NM.“

 

„Wie? Was? Von NM? Und wer hätte da was mit den Aktionären zu tun?“

 

„Der um den es sich da dreht, mit dem der Dirk da Kontakt gehabt hätte!“

 

Kontakt!

 

„Und von NM, wieso von NM, ich dachte Heckler und Koch wären da federführend gewesen?“

 

„NM waren doch für die Läufe zuständig und außerdem sind da doch auch Maschinengewehre hin geliefert worden!“

 

Das wurde ja immer schöner!

 

„Der Bessler hatte da schon Kontakt mit jemand! Weiß das auch die Polizei?“

 

„Ja, nein! Mit denen wollen wir nichts zu tun haben!“

 

Paul schüttelte den Kopf.

 

„Mit denen wollt ihr nichts zu tun haben?“

 

„Nein!“

 

Sonst noch was? Paul spürte die Fragezeichen fast körperlich. Was sollte er denn bitte mit einer solchen Ausgangslage machen, sollte er da überhaupt was machen? Das waren doch alles nur Hirngespinste.

 

„Ich kann ja mal versuchen, ob ich da was rausbekomme, aber große Hoffnungen kann ich dir da nicht machen.“ Was hatte er sich denn jetzt da wieder aufgeladen?

 

„Ja, ist ja klar, hab ja nur gedacht …Ich kann mich ja dann nochmal melden.“

 

„Ja, tu das.“

 

Paul drückte ihn weg.

 

Dann stand er auf und schaute nochmal aus seinem Fenster. Ein Milan zog seine Kreise über der Ebene, es war immer noch Sonntagmorgen. Und dennoch. Kein normaler Morgen mehr. Irgendwas könnte da doch faul sein und man könnte vielleicht versuchen, herauszubekommen, um was es da wirklich ging, um Libyen sicher nicht. Aber zumindest die Zeitparallelen waren doch auffällig, sowohl damals, als es um diese Schulungen ging und diese Waffenschiebereien, als auch jetzt, der Mord und dieser Gaddafi-Sohn..., nein, das war doch alles an den Haaren herbeigezogen!


 

 

 

 

Gewehre.

 

 

 

Paul Backes wusste früher, als Junge, immer, wo die Gewehre seines Vaters standen. In seinem Büro, im Jugendstilschrank. Die Patronen lagen unten drunter oder waren in einer der Schreibtischschubladen.

 

Sein Vater hatte zwei Waffen: Eine Büchse, das war ein umgebauter Wehrmachtskarabiner, zum Beispiel für Rehe und Wildschweine, und eine Schrotflinte für das Kleinzeug wie Vögel, Hasen, Kaninchen und Füchse.

 

So konnte er, wenn er von Winnetous Silberbüchse und Old Shatterhands Henrystutzen las, bei all der unerreichbaren Genialität dieser beiden Helden, zumindest für sich in Anspruch nehmen, dass er wusste, was das für ein Gefühl war, eine Waffe in der Hand zu halten und zwar keine Spielzeugpistole, sondern ein richtiges Gewehr! Ab und zu, wenn niemand zuhause war, ging er nämlich zu diesem Schrank und nahm die Waffen heraus.

 

Der Schrank hatte unten eine von zwei Armlehnen flankierte Sitzbank und die mittlere der drei Türen darüber hatte ein langes mit Jugendstilelementen verziertes Glasfenster. Die Türen auf der linken und rechten Seite wurden jeweils durch ein Halbrelief verziert, einen Uhu und eine Blume, die eine Mohnblume samt Mohnkapseln darstellen könnte. Der Uhu als Mahnung und Erinnerung an die Geheimnisse des Lebens und die Blume als Zeichen der Schönheit.

 

In der Mitte waren sinnigerweise die Waffen untergebracht. Der Schlüssel steckte normalerweise. Er öffnete die Tür und nahm nacheinander die beiden Gewehre heraus und hob sie in Schussposition an die Schulter. Bei der Büchse öffnete er dann den Verschluss, Hebel nach oben legen und zurückziehen, und schaute nach, ob geladen war.

 

Soweit er sich erinnerte, kam es nie vor, dass sie geladen gewesen wäre. Dann schloss er die Waffe, legte an und „schoss“. Wenn man geschossen hatte, musste man den Hebel wieder öffnen, zurückziehen, vorschieben und schließen, dann konnte man den Abzug wieder betätigen. Dabei überkam ihn regelmäßig das Gefühl, dass er gerne im „Wilden Westen“ oder sonst wo auf der gefährlichen Welt unterwegs wäre, das Gewehr über dem Rücken, und Ausschau hielt nach Feinden oder nach Wild.

 

Nach dem Schuss war vor dem Schuss. Er ließ es in der Vorstellung einige Male knallen, dann Stille. Bis dahin! An diesem Punkt dachte er normalerweise nicht weiter. Das was folgte, Schuss, Treffer, Aufbäumen, Umfallen, Liegen Bleiben, das konnte er sich nicht vorstellen. Bei Wild vielleicht, sonst aber, nein! Irgendwie enttäuscht stellte er die Waffe wieder in den Schrank.

 

Er war ja allerdings schon des Öfteren bei der Jagt dabei gewesen, auf dem Hochsitz oder bei einer Treibjagd.

 

Meist war es Abend, wenn sie in den Wald gingen. Sein Vater ging voraus, das Gewehr über die Schulter gehängt, und er stapfte hinterher. Abends im Wald, da war es ihm schon nicht so ganz geheuer. Aber sein Vater hatte ja das Gewehr dabei!

 

An ein Ereignis konnte er sich besonders gut erinnern. Meist gingen sie ja zu einem Hochsitz. Dieser spezielle stand zwischen einem Wald und einem angrenzenden, noch nicht abgeernteten Feld. Sie setzten sich oben auf die Bank und warteten. Zehn Minuten, eine halbe Stunde, noch länger. Es wurde kalt.

 

Irgendwann machte ihn sein Vater auf eine Bewegung im Getreide aufmerksam. Langsam kam da etwas näher. Außer den sich bewegenden Halmen konnte man aber nichts erkennen. Das war Spannung pur! Endlich trat etwas aus dem Feld heraus. Es war ein stattlicher Rehbock. Sein Vater schaute ihn sich zuerst durch das Fernglas an, hob dann langsam das Gewehr, entsicherte es und schoss. Der Rehbock warf sich herum und stürzte zurück ins Feld. Dann nichts mehr.

 

Der Vater befahl ihm, er solle oben bleiben und aufpassen, ob er nochmal etwas sehen könne. Dann kletterte er die Leiter hinunter und ging in das Feld. Kurze Zeit später schoss es nochmal, dann Stille.

 

Anschließend wurde der erlegte Bock aufgebrochen, das heißt, der Bauch aufgeschnitten, und die Innereien herausgeschält und ins Gebüsch geworfen. Der Fuchs würde sie holen, da war sich der Vater sicher. Danach wurde das erlegte Wild nach Hause gebracht und im Keller zur weiteren Behandlung mit einem Haken unterm Kinn aufgehängt.

 

Am nächsten Tag musste er mit drei Klassenkammeraden zusammen vor die Klasse treten und wurde für irgendetwas belobigt. Obwohl das ja nicht sehr oft vorgekommen war, wusste er heute nicht mehr weshalb. Er stand vor der Tafel, nahm die Belobigung entgegen und, was noch viel wichtiger war, er platzte beinahe vor Stolz, erzählte aber niemand warum. Sein Vater hatte am Tag zuvor einen Rehbock geschossen und er war dabei gewesen!

 

Bei der zweiläufigen Schrotflinte konnte man den Lauf auf der Höhe des Abzugs abknicken, um die beiden Schrotpatronen nachzuladen. Sie hatte zwei Abzüge, einen für jeden Lauf. Der vordere war normal und der hintere reagierte schneller, auf einen geringeren Druck, der zweite Lauf ging also schneller los.

 

Eine Treibjagd verlief so: Ein großes Waldstück wurde umstellt und von der einen Seite gingen die Treiber hindurch. Seit Paul zwölf Jahre alt war, durfte er auch mitlaufen. Er besorgte sich einen Knüppel und sie liefen zwischen den Bäumen hindurch, schlugen dagegen und schrien „Hob, Hob, Hob!“

 

Das Wild erschreckte sich und rannte aus dem Wald. Dort standen die Schützen und schossen. Wenn das Wild, zum Beispiel ein Hase, parallel zur Schützenreihe lief, es durfte natürlich nur außerhalb des Waldes vom Wald weg geschossen werden, war es oft gar nicht so leicht, festzustellen, wer nun der Schütze war. Eins, zwei, drei, vier Mann schossen, Frauen waren damals noch nicht dabei, später ab und zu, und endlich überschlug sich dann irgendwann der arme Hase und blieb liegen. Vielleicht hätten sie die Schrotkugeln farbig markieren sollen, dann hätte man spätestens beim Essen zweifelsfrei feststellen können, wer jetzt der Schütze gewesen war! Aber so?

 

Paul Backes erinnerte sich auch noch an andere Geschichten, Geschichten, die sein Vater erzählt hatte. Geschichten vom Krieg.

 

Paul dürfte vielleicht so sieben oder acht Jahre gewesen sein. Sein Vater musste deutlich angetrunken gewesen sein, sonst würde sich Paul kaum auch daran erinnern. Aber auch die Situation im Esszimmer hat er noch genau im Kopf. Alle saßen artig abends bei Tisch und aßen. Da begann sein Vater vom Krieg zu erzählen.

 

„Der Russe“, sagte er „war durchgebrochen und kam auf uns zu“. Irgendwo in Südrussland oder eher in der Ukraine, musste das gewesen sein, hatte sich Paul später zusammengereimt. „Wir standen am Rande einer Mulde, auf der anderen Seite war ein Feld. Von dort, aus dem Feld, kamen die Russen durch das Gras auf uns zu. Wir hatten leichte Maschinengewehre und schossen auf sie. Aber es wurden immer mehr. Nach und nach zog sich jede zweite Gruppe von unseren Positionen zurück. Dann war ich mit dem Schützen fast allein. Weiter weg gab es wohl auch noch eine Stellung. Die hörten wir, aber irgendwann hörte auch das auf. Dann war wohl niemand von unsren Leuten mehr da. Ich hatte mich gebückt und mein Schütze hatte das Maschinengewehr auf meine Schulter gelegt und schoss.

 

Es verging einige Zeit, immer die Stille und dann vereinzelte Schüsse! Plötzlich fiel mein Kamerad vornüber und blieb liegen. Ich drehte ihn um und sah, dass er einen Schuss in den Hals bekommen hatte. Er war tot.

 

Ich sah mich um, ich war jetzt ganz allein, nur ich und vor mir noch der Russe. Ich machte das Gewehr unbrauchbar und haute auch ab, nach hinten.“

 

„Abhauen“, wie beim Räuber und Gendarm Spiel, „komm wir hauen ab!“

 

An den weiteren Verlauf des Abendessens konnte sich Paul nicht mehr erinnern, auch nicht, was seine Mutter dazu sagte, und warum sein Vater das erzählt hatte. Ob es einen besonderen Anlass gegeben hatte. Vielleicht war ja einer der Kriegskameraden zu Besuch gewesen. Es gab da zwei, drei, aus seiner Einheit, wie er das nannte, die besuchten sich manchmal, in den ersten Jahren nach dem Krieg. Vielleicht ja nach einem solchen Besuch. Es war sozusagen aus ihm herausgebrochen. Paul konnte sich noch deutlich an die Erregung seines Vaters erinnern, als er das erzählte. Wenn Paul das heute überschlug, dürfte dieser Abend so ungefähr 15 Jahre später gewesen sein, nach diesem Tag irgendwo in der Ukraine. In einem warmen Esszimmer, an einem unbedeutenden Abend, nur für Paul war das bedeutend, er erinnerte sich auch noch Jahrzehnte später daran und an ähnliche Szenen, die sein Vater wohl bei ähnlichen Gelegenheiten erzählt hatte.

 

Dieses Maschinengewehr aus dem Bericht seines Vaters dürfte ein MG 34 oder 42 gewesen sein, Hersteller unter anderem Firma Mauser, Oberndorf am Neckar, die zweite Gewehrfabrik am Ort. Genau wie der normale Wehrmachtskarabiner, mit dem alle Wehrmachts- und SS-Verbände im zweiten Weltkrieg ausgerüstet waren, das Modell 98, Hersteller auch Mauser, Oberndorf. Allein eines der Zusatzgeräte, ein Granatwerfer, wurde im Zweiten Weltkrieg eineinhalb Millionen Mal hergestellt. Das 98er war das Gewehr, das sein Vater nach dem Krieg, in restaurierter Version, zur Jagd benutzte. Die Gewehre waren eingesammelt worden, wurden überholt und nach dem Krieg wieder weiterverkauft.